
Uns Ostdeutschen wird mitunter eine Art Nähe zu Russland, das besondere Verständnis, ja Sympathie für das Riesenreich, nachgesagt. Sollte das mit der Russlandliebe angesichts der jahrzehntelangen sowjetisch gestützten Diktatur auf unserem Boden nicht ganz zutreffen, so bliebe auf jeden Fall eine ausgeprägte Sensibilität für Russland und das Interesse an seinen Menschen erhalten. Möglicherweise ist dieses rätselhafte emotionale Verhältnis doch eine Erscheinung des weltkriegsbedingten „Russlandkomplexes“, wie der Schriftsteller Gerd Koenen in seinem gleichnamigen Buch darlegt.
Von gerade diesem Interesse für die Belange Russlands zeugt die kürzlich entfachte Debatte auf den Seiten der Torgauer Zeitung. Und gerade aus dieser besonderen Sensibilität heraus ist es wichtig, als Freunde und gleichberechtigte Partner, ehrlich über besorgniserregende Entwicklungen, miteinander zu reden. Denn die wahren Russlandfreunde, die sich jahrelang für die Besserung der Beziehungen und die Verständigung unserer Völker bemühten, werden seit genau einem Jahr auf eine harte Probe gestellt.
Mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim hat Putin eine rote Linie überschritten: Der Verzicht auf gewaltsame Grenzverschiebungen stellte bis März 2014, als ein Referendum im Schatten russischer Besetzung den Anschluss der Krim an Russland erklärte, einen europaweiten Konsens dar. Gerade die auswärtige, also russische, Aggression ist es, die dieses verfassungswidrige Vorgehen auch völkerrechtswidrig macht. Dass es sich um einen Akt der Aggression handelte, bestätigte die Generalversammlung der Vereinten Nationen. Einsam wurde es leider um Russland bei dieser Abstimmung am 27. März 2014, denn nur eine Handvoll Staaten, darunter Syrien, Nordkorea und Kuba, votierten gegen die Resolution, welche die Angliederung der Krim verurteilt, das Referendum ausdrücklich für ungültig erklärt und die territoriale Integrität der Ukraine befürwortet.
Der Bruch mit dem Völkerrecht auf der Krim ist einzigartig und darf nicht durch eine etwaige Präzedenzwirkung des Kosovo relativiert werden. Auch wenn man die NATO-Intervention in Jugoslawien, die, einer durch den UNO-Sicherheitsrat festgestellte humanitäre Katastrophe mit unzähligen zivilen Toten und über 200 000 Flüchtlingen ein Ende setzte, für einen Fehler hält, darf trotzdem Unrecht nicht durch Unrecht begründet werden.
Und dann kam das Undenkbare: Putin hat einen Angriffskrieg gegen das ukrainische Brudervolk begonnen.
Mit einer äußerst schweren Hypothek wird die autoritäre Herrschaft Putins – voraussichtlich 2024 – zu Ende gehen. Die missglückte Modernisierung des Landes, seine Abhängigkeit von Rohstoff-Exporten, die maroden Sozialsysteme, eine Gesundheitsversorgung nur für Reiche, der desolate Zustand der Armee, die wettbewerbsunfähige Bildung und Wissenschaft, die Armut und Perspektivlosigkeit in der Provinz und über allem der Bevölkerungsschwund sowie die allgegenwärtige Korruption…. Gerade diese und nicht der behauptete Faschist auf dem Majdan sind die wahrhaftigen Probleme Russlands. All dies wären die Aufgaben, welche ein selbstsicherer und starker – wie Putin sich, etwa auf offiziellen Pressebildern mit nacktem Oberkörper reitend, selbst präsentiert – Präsident anpacken müsste. Und so kann man dem mehrmals preisgekrönten Osteuropahistoriker Karl Schlögel nur beipflichten: „Die sogenannte Ukrainekrise ist zuerst eine Russlandkrise, in die sie eine Regierung geführt hat, die der säkularen Aufgabe, das Land zu modernisieren, nicht gewachsen war. Oder knapper ausgedrückt: Es ist leichter, einen kleinen erfolgreichen Krieg vom Zaun zu brechen, als endlich die Autobahn zwischen Moskau und Sankt Petersburg fertigzustellen.“
Der wahre Russlandfreund bedauert es, dass Russland heute durch hybride Kriegsführung, also eine Mischung konventioneller und irregulärer Kampfweisen, gezielt gefrorene oder „halbgefrorene“ Konfliktherde in einer Reihe seiner Nachbarn schafft: Transnistrien und Südossetien, sowie den Georgienkrieg 2008 um einige zu nennen. In dem Bruderland Ukraine kämpfen russische Soldaten Seite an Seite mit Separatisten und im eigenen Süden wird die tschetschenische Hauptstadt Grosny wegen Separatismus dem Erdboden in einem beispiellosen Krieg gegen das eigene Volk gleichgemacht. Mehrmals wurde der russische Staat durch den Straßburger Menschenrechtsgerichtshof verurteilt.
Der wahre Russlandfreund kann es nicht hinnehmen, dass die Destabilisierungsversuche des Kremls längst die Europäische Union selbst zum Ziel haben. Griechenland, Zypern, Ungarn und Bulgarien sind neben den baltischen Staaten Zielscheiben des antieuropäischen Wirkens und der Einflussnahme der russischen Regierung geworden. Die betrübende außenpolitische Konsequenz dieser Abschottung und Abwendung in antieuropäischem Reflex ist die mit eurasischer Rhetorik geschmückte Annäherung an China. Die "ruhende" Mitgliedschaft Russlands im Europarat ist hierzu ein genug alarmierendes Signal der Selbstisolation.
Im Kampf gegen „europäische Pseudowerte“ werden grundrechtliche zivilisatorische Errungenschaften wie Offenheit, Pluralität, Nichtdiskriminierung und Kunstfreiheit durch die staatliche Fernsehpropaganda als dekadente Erscheinungen eines durch Moralrelativismus zersetzten Westens diffamiert. Die eigene Geschichte wird in Richtung Verharmlosung kommunistischer Verbrechen umgedeutet: die Sowjetnostalgie artet in einen neuen Stalinkult aus. Unzählige Straßen und Plätze landesweit sowie die Moskauer Metro tragen unverändert Lenins Namen. Autoritärer Konservatismus statt Vielfalt und Selbstbestimmung. Strafrecht und Blasphemieverbot statt Meinung- und Kunstfreiheit. Staat statt Person.
Rechtspopulistische Parteien Europas werden mit Millionenbeträgen durch den Kreml mitfinanziert; Rechtsradikale aus ganz Europa wurden vor wenigen Tagen in Sankt Petersburg hofiert. Dieser neue Nationalismus und Hurrapatriotismus macht bei der staatlichen Propaganda mit: Menschenrechtsgruppen, die für die Einhaltung der eigenen russischen Verfassung eintreten werden als „fünfte Kolonne des Westens“ und „ausländische Agenten“ verleumdet. Wie bedauerlich ist dies gerade im 70. Jahr der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus!
Eine wertegeleitete Außenpolitik ist verpflichtet, im Dialog mit Russland auch die Defizite beim Namen zu nennen: die Repressionen gegen Andersdenkende und -lebende, die Unterdrückung und Zersetzung der Opposition durch Geheimdienste und Staatsanwaltschaft, die Einschränkung der Presse- und Demonstrationsfreiheit durch Einschüchterung und verfassungswidrige Gesetzgebung... Diese werteorientierte Politik muss alles Mögliche für eine Stärkung der Zivilgesellschaft tun, die – wie der bewegende Trauermarsch für Boris Nemzow zeigte – da ist. Mehr denn je müssen wir offen für Rechtsstaat, Einhaltung der Menschenrechte und Etablierung einer unabhängigen Justiz eintreten.
Ein respektvoller Umgang mit Russland, der auf den Seiten der Torgauer Zeitung kürzlich geltend gemacht wurde, behandelt Russland auf Augenhöhe und setzt auf gegenseitiges Vertrauen. Weg vom Vorurteil, Russland sei mit dem Verstand nicht zu erfassen, sondern nur mit der Seele, misst er es mit dem Maßstab, den Russland selbst für sich beansprucht, nämlich ein moderner, europäischer, demokratischer, pluralistischer und friedlicher Staat zu sein.
Allzu schnell haben wir nach dem Ende des Kalten Krieges unsere östlichen Nachbarn aus dem Blick verloren in der Annahme, dass ihre Zugehörigkeit zu Europa als gemeinsamer Kulturraum selbstverständlich ist und nicht hinterfragt wird. Wir haben unsere gesellschaftlichen und historischen Bindungen vernachlässigt und viel weiter östlich, etwa nach China, außenpolitische Akzente gesetzt. Gerade deshalb ist es von besonderer Tragweite, dass im Koalitionsvertrag 2013 eine ganze Seite den Titel „Offener Dialog und breitere Zusammenarbeit mit Russland“ trägt. Insbesondere wichtig ist mir dort die Absicht, „die Russland- und Osteuropa-Kompetenz in Deutschland auf eine solide Grundlage zu stellen“. Auch der Einsatz „im Rahmen der EU für mehr Kohärenz in der Russland-Politik“ ist ein erklärtes Ziel der Bundesregierung. Und so gebe auch ich meine persönliche Vision eines grenzfreien Raums von Lissabon bis Wladiwostok trotz alledem nicht auf!
Dieser Artikel erschien zuerst am Freitag, dem 17.04.2015 in der Drauckausgabe der Torgauer Zeitung.
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