Vortrag Religion und Politik am 26.10.2016, Halle

„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert.“ In diesen berühmten Sätzen, hat der große deutsche Jurist und ehemaliger Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde sehr prägnant die Rolle der Religion in dem modernen Staat und in einer freiheitlichen Gesellschaft dargelegt.

Gleichzeitig hat er eine Warnung hinsichtlich der verfehlten Wahrnehmung von Religion und ihr Verhältnis zur Freiheit ausgesprochen, indem er fortfuhr: „Der freiheitliche Staat kann diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat“.

In der Tat sind Religion und Glaube wesentliche Elemente der menschlichen Identität. In unserem Rechtssystem genießen diese existenziellen Aspekte des menschlichen Lebens einen hohen Wert. Die individuelle Glaubensfreiheit (positive und negative) kommt gleich an vierter Stelle im Grundgesetz (GG). So postuliert Art. 4 GG gleich im ersten Absatz „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich“, um es im zweiten Absatz fortzusetzen „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet“. Religiöse Unterweisung in öffentlichen Schulen – davon spricht Art. 7 GG – wird als zentraler Bestandteil der Glaubensfreiheit, ebenfalls im Grundgesetz garantiert.

Das Deutsche Religionsverfassungsrecht, also das Recht, welches das Verhältnis zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften regelt, hat grundgesetzlichen Ursprung. Es handelt sich um die Artikel der Weimarer Reichsverfassung aus dem Jahr 1919, welche 1949 durch die Verfassungsväter und die wenigen -mütter in das Grundgesetz aufgenommen wurden. Art. Diese wenigen Verfassungsartikel legen auch die Rechtsstellung, also den juristischen Satus der Kirchen und Religionsgemeinschaften in Deutschland fest. Das Recht auf kollektive und korporative Religionsfreiheit, das heute in unserer Bundesrepublik gilt, ist somit fast 100 Jahre alt. Denn gerade die weltanschauliche Neutralität (Art. 137 „Es besteht keine Staatskirche“), die Vereinigungsfreiheit der Religionsgemeinschaften sowie ihre Autonomie und Selbständigkeit, also das Recht, ihre Angelegenheiten selbständig „innerhalb der geltenden Gesetze zu ordnen und zu verwalten“ stammen auch aus dem Jahr 1919.

Das eingangs angeführte Böckenförde-Diktum vom Jahr 1976 deutet auf das Potenzial der Religion und ihre Bedeutung für die Gesellschaft. Es stimmt aber auch, dass der säkular-weltanschauliche Staat genauso über nichtreligiöse Voraussetzungen verfügen muss. Hierzu zählt etwa die republikanische Idee, die im GG genauso sichtbar ist, wie der Gottesbezug in der Präambel. Die Stärke der freiheitlichen Ordnung ist, dass sie nicht nur für andere Traditionen (Islam, Humanismus) offen ist, sondern auch von diesen gerechtfertigt und getragen werden kann.

Welche Rolle die Religion im weltanschaulich-neutralen und säkularen Staat spielen soll – das ist ja die Frage, die heute im Raum steht – verraten die ersten Zeilen des GG. Rein rechtlich hat der Gottesbezug in der Verfassung lediglich symbolische Wirkung. Nach den Gräueltaten des Nationalsozialismus und nach den beiden Weltkriegen des XX. Jahrhunderts, die den Glauben an den Menschen ins Wanken brachten, war die Verankerung einer übermenschlichen Instanz im Grundgesetz logisch.

Paul Nolte stellt in seinem Buch gleich im Titel die Frage „Brauchen wir einen religionsfreundlichen Staat?“ und bejaht sie im Ergebnis. Fundierte demoskopische und sozialwissenschaftliche Studien zeigen, dass Religion nach wie vor eine gesellschaftliche Bindekraft mit erheblichem Potenzial ist, sie bekräftigen die Bedeutung der geistigen Orientierung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dieser enormen Verantwortung müssen sich die Kirchen bewusst sein und eine Rückbesinnung auf ihren ursprünglichen und eigentlichen Auftrag an den Tag legen.

Gleichzeitig ist in Deutschland wie in jedem westeuropäischen Land ein Säkularisierungsschub, also ein Bedeutungsverlust von Kirche und religiösen Praktiken, nicht zu übersehen. Kirchenaustritte nehmen zwar zu, die beiden großen Kirchen haben aber immer noch mehr als 52 Millionen Mitglieder, also „Belonging without believing“ (wie auch in Skandinavien), wohingegen „Believing without belonging“ für Osteuropa und insb. für den Islam typisch ist. Gerade diese fehlende institutionelle Verankerung macht bekanntlich die Eingliederung des Islam in unser religionsverfassungsrechtliches System besonders schwierig.

Diese Säkularisierungstendenzen dürfen nicht zu radikalen Verschiebungen im Verhältnis von Staat und Religion verleiten. Die Beschneidungsdebatte, welche durch ein Gerichtsurteil eines Kölner Amtsgerichts im Mai 2012 angestoßen wurde, hat vieles über den Umgang unserer „postmodernen“ Gesellschaft mit Religion offenbart. Sie hat antireligiöse Reflexe, muslim- und judenfeindliche Vorurteile geweckt.

Die richtige Antwort nach dem Ort der Religion in einem weltanschaulich-neutralen Staat liegt in den Vorzügen des sog. kooperativen Trennungsmodells des Grundgesetzes und nicht in laizistischen Bestrebungen. Wer jegliche staatliche Finanzierung der Religion verneint, muss erklären, wie dies etwa mit der gebotenen Förderung des jüdischen Lebens zu vereinbaren wäre. Der Bund dotiert die jüdische Religion mit mehr als 10 Millionen Euro jährlich – das ist die vom Deutschen Bundestag beschlossene Subvention für den Zentralrat der Juden. Die Länder fördern die jüdischen Landesverbände mit weiteren Mitteln. Dabei hat die jüdische Religionsgemeinschaft ca. 100 000 Mitglieder bundesweit Bei einer strikten, laizistischen Trennung zwischen Staat und Religionsgemeinschaften – etwa nach französischem oder US-amerikanischem Modell dürfte diese Förderung verfassungswidrig sein. Genauso widersprüchlich wäre die Forderung nach der Abschaffung christlich-theologischer Fakultäten an staatlichen Universitäten bei gleichzeitiger Etablierung islamischer Hochschultheologie. Und die Einrichtung islamischer Lehrstühle an staatlichen Hochschulen befürworten alle Bundestagsparteien.

Nach diesen Überlegungen allgemeiner und theoretischer Natur würde ich in einem zweiten Schritt zu einigen konkreten Ausprägungen der Präsenz von Religion in der Politik übergehen.

Der Bundesgesetzgeber ist zu weltanschauliche Neutralität verpflichtet und Religion ist in vielen Hinsichten eine reine Privatsache. Nichtsdestoweniger leben wir, Abgeordnete des Deutschen Bundestages, eine freundschaftliches Verhältnis zur Religion. Das ist durch diverse Symbole äußerlich sichtbar. Im Sitzungsraum der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hängt konsequenterweise ein Kreuz. Weiterhin verfügt der Deutsche Bundestag im Reichstagsgebäude über einen nicht nur überkonfessionellen, sondern auch überreligiösen Andachtsraum. Aus mehrjähriger Erfahrung kann ich bestätigen, dass er sehr frequentiert ist. Dort werden jede Sitzungswoche christliche Morgenandachten gehalten. Häufig werden diese 20-minütigen Gottesdienste durch die Abgeordneten selbst gestaltet und der Raum ist immer überfüllt während der Morgenandachten. Der Raum kann aber durchaus für das rituelle muslimische Stundengebet genutzt werden – die Mekka-Richtung ist sichtbar und Gebetsteppiche sind vorhanden. Auch jüdischer Gottesdienst ist dort möglich. Der Raum ist dauerhaft nicht abgeschlossen – viele Kollegen nutzen ihn als eine Möglichkeit, sich zurückzuziehen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Dies darf nicht wundern. Die zu beratenden Sachverhalte werden immer komplexer und unübersichtlicher – sei es Griechenland-Rettung oder Rente, sei es digitale Wandel oder die EU-subventionierte Landwirtschaft. Bei aller Bedeutung der darin enthaltenen Problematik würde ich sie „vorletzte Fragen des Lebens“ nennen. Die richtigen Sternstunden des Parlaments, da wo jeglicher Fraktionszwang aufgehoben wird und Abgeordnete allein nach ihrem Gewissen entscheiden und abstimmen sollen, sind jedoch die sogenannten „letzten“ Fragen des Lebens, – da, wo es um den Beginn oder das Ende des menschlichen Lebens geht. Das sind häufig strittige ethische Themen, etwa aus dem biomedizinischen Bereich, wo es – salopp gesagt – um Leben und Tod geht. Hierzu zählen etwa die Regelung der Patientenverfügungen, Hospiz und Palliativmedizin, Beihilfe zum Suizid, die Schwangerschaftsabbrüche (§ 218 StGB), die Stammzellforschung an Embryonen, Medikamentenstudien an Nichteinwilligungsfähigen, etc. Gerade in diesem Bereich ist die Expertise der Kirchen und Religionsgemeinschaften gefragt.

Weiterer Punkt: die Glaubensfreiheit weltweit. Der Deutsche Bundestag als Ganzes und die CDU-Bundestagfraktion insbesondere legen großen Wert auf die weltweite Einhaltung der Religionsfreiheit. Regelmäßig wird die Bundesregierung aufgefordert, sich insbesondere in Krisenregionen gegen die Unterdrückung und Diskriminierung religiöser Minderheiten und für die Einhaltung der Rechte dieser einzusetzen. Der Flüchtlingsstrom hat Religionskonflikte und Anfeindungen auch zu uns nach Deutschland gebracht. Wir haben nicht geahnt, dass innerhalb der Flüchtlingsunterkünfte muslimische Menschen, die angeblich in Not sind, noch Energie und Potenzial für religiösen Hass gegen ihre christliche Raumnachbarn haben werden, während das Wachpersonal, meist ebenfalls muslimisch, tatenlos zuschaut. Das ist eine Baustelle für die Politik, insbesondere vor Ort in den Ländern – christliche Flüchtlinge effektiver zu schützen.

Deutschland erlebt eine neue Vielfalt der Ethnien, der religiösen Bekenntnisse und der sozialen Lagen. Diese „innere Globalisierung“ trägt Debatten in die Mitte der Gesellschaft, die auf den ersten Blick anstrengen und beunruhigen. An Einwanderung und Vielfalt scheiden sich die Geister. Die Zeitung „Junge Freiheit“ spricht in ihrer aktuellsten Ausgabe von der „berechtigten Abwehr“ osteuropäischer Staaten gegen eine ihnen „durch die EU aufgezwungene Implantierung kulturfremder Minderheiten“. Von „Flüchtlingsinvasion“ und „schleichender Islamisierung“ ist bei Pegida und AfD die Rede.

Allen Ängsten zum Trotz, welche Populisten und Nationalisten schüren, bin ich der festen Überzeugung, dass religiöse und kulturelle Vielfalt grundsätzlich eine Bereicherung für unser Gemeinwesen sind. Die Präsenz anderer Kulturen und Religionen ist trotz allen negativen Begleiterscheinungen von Vorteil für unsere Gesellschaft. Der Vergleich mit den USA zeigt: von einer durchdachten und bewusst gesteuerten Einwanderung kann ein Land nur profitieren. Aber auch da gilt es: Religion und insb. der Islam haben auch eine Schattenseite: sie können Menschenrechte unterdrücken, die Gleichstellung von Frau und Mann verneinen, gewaltbereit und intolerant sein. Traditionelle Vorschriften dürfen gerade Frauen nicht von der gesellschaftlichen Teilhabe ausschließen. Vollverschleierungen, die die Identität der Frau nicht erkennen lassen, widersprechen einer offenen Gesellschaft. In Deutschland wollen sich alle offen ins Gesicht sehen können. Man muss es zugeben – leider haben wir fast ausschließlich in islamisch geprägten Milieus in letzter Zeit verstärkt mit Ehrenmorden und mit Kinderehen zu tun. Allein in Hessen soll es ungefähr 70 Kinderehen ausschließlich unter Flüchtlingen geben. Deshalb wird die Bundesregierung einen Gesetzentwurf, der das Mindestalter von Ehepartnern auf 18 Jahre erhöhen soll, vorlegen. Moscheevereine und Verbände, welche eine verfassungsfeindliche und antieuropäische Kultur pflegen und ihre Hassprediger sollen unter strengen Beobachtung bleiben. Bei Wahrung seiner weltanschaulichen Neutralität ist der Staat verpflichtet, durch sein Gewaltmonopol als ultima ratio repressiv zu werden und auch notfalls die gebotene individuelle und kollektive Religionsfreiheit einschränken, um die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schützen.

Es ist dann aber auch konsequent, an der Seite der anderen, der Muslime zu stehen, die ihre Religion in Einklang mit allen Errungenschaften unserer freiheitlichen Gesellschaft leben möchten. Dazu gehört auch unsere Forderung als CDU, dass Imame in deutschen Moscheen auch auf Deutsch predigen sollen. Diese Maßnahme trägt nicht nur zur Vertrauensbildung in der Mehrheitsgesellschaft bei, sondern ist ein großer Schritt in Richtung Integration. Die religiöse Teilhabe in deutscher Sprache ist ein wichtiger Beitrag, damit Muslime sich hier zu Hause fühlen und ihren eigenen Weg inmitten unserer Gesellschaft finden können. Dies ist das beste Mittel gegen Hass und Radikalisierung – wenn wir der Hassrede mit positiver Rede entgegnen.

Die Bundesregierung hat bereits auf die Frage muslimischer Seelsorge reagiert: Sie finanziert vier Lehrstühle für islamische Theologie in Deutschland, an denen junge Imame, Männer und Frauen, in deutscher Sprache ausgebildet werden. Es handelt sich um Studenten, die in Deutschland aufgewachsen sind, hier ihren kulturellen Hintergrund haben und es verstehen, die religiösen Grundsätze mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung in Einklang zu bringen. Sie stehen für einen aufgeklärten Islam in ihrer deutschen Heimat. Nun gilt es, dass die muslimischen Gemeinden dieses Angebot annehmen. Darüber hinaus fordert die CDU/CSU-Bundestagsfraktion seit längerem von den  muslimischen Gemeinden in Deutschland, sich von Kultur und Politik ihrer Herkunftsländer unabhängig zu machen und sich finanziell selbständig aufzustellen, um ihre Religion im Rahmen unserer Verfassung ausüben zu können. In meiner diesbezüglichen Plenarrede habe ich an die Muslime appelliert, die Werte der Gleichberechtigung und der Achtung der Menschenwürde in ihre Communities und Moscheegemeinden hineinzutragen. Mit anderen Worten, also mit den Worten Böckenfördes aus dem Anfangszitat: das Engagement und Mitwirken einer wachen und mündigen Bürgergesellschaft – auch innerhalb der Religionsgemeinschaften – ist für die Freiheit, auch für die Religionsfreiheit unerlässlich.

Und zuletzt ein ganz persönliches Bekenntnis: ich mache Politik auf Basis des christlichen Menschenbildes und christlicher Werte. Nur wenn wir uns mutiger auf diese Wurzeln besinnen und diese selbstbewusster annehmen, können wir denjenigen, die zu uns kommen, die Herkunft unserer Grundwerte vermitteln - egal ob und welcher Religion sie angehören.

Für Ihre Aufmerksamkeit danke ich Ihnen und bin gespannt auf Ihre Fragen.

Marian Wendt, MdB