Ansprache am Volkstrauertag, 15.11.2015

16.11.2015

„Verlasst Euch nicht auf Gewalt“ (Psalm 62, 11) ruft das biblische Buch der Psalmen auf. Welche bessere Gelegenheit, diese Mahnung ernst zu nehmen, als die heutige Volkstrauerfeier? Aber was sind die Ursprünge des Volkstrauertages?

Im fernen 1919 wurde auf private Initiative der „Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge“ gegründet, welcher Soldatengräber in Deutschland und vor allem in Ausland errichten und pflegen wollte. Die Gründer des Vereins waren der Ansicht, die Pflege der deutschen Kriegsgräber im Ausland sei eine nationale Aufgabe. Nicht „befohlene“ Trauer war das Motiv, sondern das Setzen eines unübersehbaren Zeichens der Solidarität mit den Hinterbliebenen der Gefallenen.

In diesem laufenden Jahr zahlreicher Jubiläen und Jahrestage – 70 Jahre Ende des Zweiten Weltkrieges und Auschwitzbefreiung, 25 Jahre Wiedervereinigung Deutschlands, um die wichtigsten zu nennen – nimmt der 90. Jahrestag der offiziellen Einführung des Volkstrauertags als einheitlichen Gedenktags im Jahr 1925 eine besondere Stellung. Ein weltlicher Gedenktag wurde in das Kirchenjahr an einem Sonntag sechs Wochen vor Ostern integriert. Durch Feldgottesdienste, Ehrenwachen und Kranzniederlegungen wurde an das Massensterben an der Westfront im Ersten Weltkrieg gedacht. Zu Recht entschied die Bundesregierung im Jahre 1952 nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft, die Tradition des Volkstrauertags wiederzubeleben. Um den Tag deutlich vom nationalsozialistischen Heldengedenktag abzugrenzen, wurde als Termin der zweite Sonntag vor dem Ersten Advent festgelegt, womit auch der kirchlich-christliche Bezug wiederhergestellt wurde.

Für mich als Nordsachse entfaltet der Volkstrauertag jedoch eine besondere Dimension. An diesem Tag denke ich besonders an das Leid der Vertriebenen, einer große Opfergruppe, der auch meine Vorfahren angehören. So ist das Jahr 2015 in meinem persönlichen Kalender – als Christ und als Politiker – durch einen weiteren runden Jahrestag gekennzeichnet. Vor genau 50 Jahren, am 1. Oktober 1965 wurde die Denkschrift „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“, bekannt als Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, veröffentlicht. Schwerpunktmäßig befasste sich die Denkschrift mit der Lage der Menschen, die als Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg durch Flucht und Vertreibung in das heutige Deutschland kamen. Berühmt geworden und wirksam gewesen ist die Denkschrift besonders mit einem ethischen Neuansatz. "Die hier anzustrebende internationale Friedensordnung ist ohne Wahrheit und Gerechtigkeit, ohne gegenseitige Berücksichtigung berechtigter Interessen und ohne den Willen zum Neuanfang auf der Grundlage der Versöhnung nicht denkbar", so haben die Verfasser 1965 formuliert. Dieser Impuls aus dem evangelischen Bereich, diese theologische Begründung der Aussöhnung und der dezidierten Verantwortungsübernahme als Faktor des politischen Handelns sind sowohl in der Rückschau, als auch heute, unentbehrlich.

„Erinnern-Versöhnen-Frieden bewahren“ steht auf der Schleife des Gedenkgebindes. Der Volkstrauertag ist ein Symbol gegen die menschliche Vergesslichkeit, sowohl aus einer Verantwortung der Lebenden gegenüber den Toten, als auch aus einer Verantwortung der Lebenden sich selbst und der menschlichen Zukunft gegenüber. Der Gedächtnisschwund, in dem alles auf die Bedürfnisse des heutigen Tages ausgerichtet ist, die Versuchung, das momentane als letzte Wahrheit anzusehen, stellen eine gravierende Gefahr für unsere Zukunftsfähigkeit dar. Aus der trauernden Leidenschaft für das Leben muss die Leidenschaft der beharrlichen und geduldigen Arbeit für Frieden, Demokratie und Wohlstand wachsen. Das ist für mich eine inspirierende Zielsetzung meiner parlamentarischen Arbeit: Aus dem Gedenken an die getöteten und gefallenen Soldaten, sowie an die zahlreichen Vertriebenen, ergibt sich für mich der Auftrag eines starken friedensstiftenden Engagements der Bundesrepublik in Krisenregionen der Welt, einer besonderen Sorge für die Schwachen und Benachteiligten im Geiste der Solidarität und der christlichen Nächstenliebe. Gerade aus der Volkstrauer erwächst diese politische Zielangabe für diese und die nächsten Generationen.

Europa erschien nach dem Zweiten Weltkrieg und noch einmal nach dem Ende der kommunistischen Diktaturen als ein Projekt des neuen, friedlichen, Gewalt vermeidenden Zusammenlebens. Dieses Projekt ist aktuell gefährdet, nicht nur durch die Uneinigkeit der europäischen Staaten im Umgang mit der großen Zahl von Flüchtlingen, sondern auch durch Gewalt und Krieg in manchen Regionen.

Deshalb brauchen wir heute auf dem Weg der Versöhnung und Verständigung mit unseren Partnerstaaten diese Erinnerung und das Andenken an die Opfer. Verhandlungen, Abkommen und Institutionen sind wichtig, aber eine „Außenpolitik der Gesellschaften“, um Ralf Dahrendorf zu bemühen, also der Wille der Menschen, die diese Zusammenarbeit mit Leben füllen, genauso. Auch in der Flüchtlingskrise, dieser für uns größten Herausforderung der Nachkriegszeit, können wir die Ursachen und Auswirkungen in Europa auf die Dauer nur gemeinsam, mit Mut und Weitsicht, mit Geschlossenheit und Zuversicht angehen.

Lasst uns also „nicht auf Gewalt“, sondern nach wie vor auf Versöhnung, Verständigung, Freundschaft und offenen Austausch setzen!

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.